1312 LAND & LEUTE Bewegungen einen so großen Einfluss haben. Ich glaube, sie haben viel weniger Einfluss als das Ka- pital. Ich denke, der Kapitalismus kontrolliert viel mehr, als wir normalen Menschen glauben. Wir denken, dass die Politiker die Macht haben, aber sie haben gar nicht die Macht. Und da kommen wir ins Spiel – ohne Ideologie, weder links noch rechts oder mittig. Wir sind Anarcho-Surrealisten. Und keiner weiß, was das ist. Ich auch nicht. Verändern Sie als regierender Künstler die Politik oder ändert Politik die Künstler? Ich denke, ein bisschen von beidem. Wir verändern definitiv die Politik, aber ich kann nicht sagen in wel- chem Umfang. Und natürlich hat der Politikbetrieb auch Auswirkungen auf mich. Bevor ich damit an- fing, hatte ich so gut wie keine Ahnung, und je mehr man erfährt, umso auswegloser scheint alles zu sein. Deshalb ist Unwissenheit auch ein Stück Glückselig- keit. Und ich war unwissend und arglos. Aber das ist jetzt weg, insoweit hat es mich verändert. Ihre politischen Konkurrenten aus Island, allen voran die konservative Unabhängigkeitspartei, hoffen, dass sie nur aufgrund der Krise und der enttäuschten Menschen in das Amt gewählt wur- den. Sind Sie ein One-Hit-Wonder? Es ist eine Taktik von mir und von uns, dass wir uns als simple Spaßvögel dargestellt haben. Was wir aber nicht sind. Wir sind eine Gruppe sehr talen- tierter und gescheiter Leute und keineswegs dumm. Es war uns durchaus recht, dass unsere Gegner versucht haben, uns als populistisches One-Hit- Wonder abzustempeln und ich nur Bürgermeister für vielleicht zwei Monate wäre und dann einen Herzinfarkt bekomme. Oder das Ganze nur Show ist und ich nach kurzer Zeit zurücktrete oder so, aber das tun wir alle nicht. Keiner der Gewählten aus der „Besten Partei“. Wir sind sechs Ratsmitglieder, und niemand ist bisher gegangen, keiner wird gehen, kei- ner beabsichtigt zu gehen. Jeder nimmt seinen Job absolut ernst, und die Leute realisieren immer mehr, dass wir real sind. Man hat den Eindruck, dass Sie inzwischen so etwas wie ein politischer Popstar in Europa ge- worden sind, weil es recht einzigartig ist, dass ein Komiker zum Bürgermeister gewählt wird. Wie sehen Sie das selbst? Ich sehe mich selbst als Beispiel dafür, dass es möglich ist, die politische Bühne zu betreten als jemand, der kein professioneller Politiker ist. Ich glaube sogar, dass in vielen Fällen Politik mehr Schaden anrichtet, als dass sie Gutes tut. Vieles kann ohne Politiker gemacht werden. Einfach von gewöhnlichen Menschen, die ihr Bestes geben, um Probleme zu lösen. Haben Sie Probleme gelöst? Ja! Ich habe eine Menge Probleme gelöst. Die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Stadt wird besser, wir haben sehr komplizierte Angele- genheiten gelöst. Zum Beispiel die Schieflage beim städtischen Energieunternehmen, die bedrohlich war. Ich weiß nicht, ob wir hinter den Politikern aufräumen. Aber wir ändern in jedem Fall die Me- thode, wie Politik gemacht wird. Können Sie dafür ein Beispiel geben? Die alte Methode betrifft die Vorstellung eines An- führers. Wenn man nur ein gutes Staatsoberhaupt hat, ist alles in Ordnung. Aber so ist es nicht. Es ist egal, wie gut das Staatsoberhaupt ist. Es bleibt ohnehin alles gleich. Die Zeit der Helden ist vor- bei. Auch diese Irreführung durch eine Ideologie. Nur, wenn man die richtige Weltanschauung hat, wird alles gut. Das ist auch Unsinn. Wir hatten alle möglichen Ideologien, und keine davon ist perfekt. Keine ist besser oder schlechter als die andere. Ich glaube auch nicht, dass Parteien oder politische Die Menschen vertrauen Ihnen. Sie haben Sie gewählt, weil sie Ihnen vertrauen. Welche Rolle spielt Humor dabei? Ich bin in Island eine prominente Person, und ich bin liebenswürdig, sehr einfach, ehrlich und respektvoll. Zu meiner Philosophie gehört es, im Leben mehr Müll aufzuheben als zu hinterlassen. Ich versuche, mit meiner Arbeit Gutes zu tun, die Menschen wissen das. Und auch der Humor und die Naivität, ich versuche, mich nicht allzu ernst zu nehmen. Manchmal muss ich mich selbst daran er- innern, wenn Sie mir zum Beispiel all diese Fragen stellen, dass ich eigentlich gar nicht so viel weiß. Und ich fange an, darüber nachzudenken, dass ich das alles wissen sollte. Aber dann versuche ich, mich wieder daran zu erinnern, dass ich einfach da bin, hier in diesem Amt, Bürgermeister von Reyk- javík – ohne zu wissen, was das bedeutet. Das ist doch mehr als genug. Das Gespräch führte Jessica Sturmberg/Deutschlandradio DIE ZEIT DER HELDEN IST VORBEI Ein Gespräch mit dem Schauspieler und Reykjavíker Bürgermeister Jón Gnarr 23.04.-16.05. Mo-Fr 10:00-19:00 Uhr, Sa 11:00-16:00 Uhr Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig SKANDINAVISCHES WOHNZIMMER Ausstellung aktueller Buchpublikationen aus Skandinavien, Finnland und Island. Zudem stehen DVDs mit Filmen und Serien bereit, darunter „Næturvaktin“ • Jón Gnarr, geboren 1967 in Reykjavík, begann seine Karriere als Komiker Anfang der 1990er-Jahre in einer Radio-Sitcom im staatlichen Rundfunk. Bekannt wurde er 2007 durch seine Rolle als Tankwart in der Fernsehserie „Næturvaktin“ (Nachtschicht) und deren Fortsetzungen „Dagvaktin“ (Tagschicht) und „Fangavaktin“ (Gefängnis- schicht). 2009 gründete er die Partei Besti flokkurinn (Beste Partei), die kostenlose Handtücher in Schwimmbä- dern, offene Beteiligung an der Korruption und die Nicht- Einhaltung der Wahlversprechen versprach. Bei der Wahl zum Reykjavíker Kommunalparlament erhielt die Partei knapp 35 Prozent der Stimmen, und Gnarr trat das Amt des Bürgermeisters der isländischen Hauptstadt an. Jón Gnarr, geboren 1967 in Reykjavík, begann seine Karriere als Komiker Anfang der 1990er-Jahre in einer Radio-Sitcom im staatlichen Rundfunk. Bekannt wurde er 2007 durch seine Rolle als Tankwart in der Fernsehserie „Næturvaktin“ (Nachtschicht) und deren Fortsetzungen „Dagvaktin“ (Tagschicht) und „Fangavaktin“ (Gefängnis- schicht). 2009 gründete er die Partei Besti flokkurinn (Beste Partei), die kostenlose Handtücher in Schwimmbä- dern, offene Beteiligung an der Korruption und die Nicht- einhaltung von Wahlversprechen versprach. Bei der Wahl zum Reykjavíker Kommunalparlament erhielt die Partei knapp 35 Prozent der Stimmen, und Gnarr trat das Amt des Bürgermeisters der isländischen Hauptstadt an. Die Drei von der Tankstelle: Aushilfe Daníel (Jörundur Ragnarsson), der Angestellte Ólafur (Pétur Jóhann Sigfússon) und Chef Georg (Jón Gnarr) in der Serie „Næturvaktin“ von Ragnar Bragason © Sagafilm