61 Canini Die vorderen Eckzähne waren die eines Raub- tiers. Ursprünglich war ihr Schauplatz ein feuchter Hohlraum von wenigen Kubikzentimetern. Zu der Zeit war dort nur eine fleischige Wölbung, die wie der Drache im Märchen über unaussprechlichen Schätzen brütete, verschanzt hinter einem Bollwerk aus milchfarbenem Zahnbein. Wollte das Tier amü- sieren oder täuschen, wischte es mit der Zungen- spitze über die Balustrade; empfand es Angst oder Wut, entzog es sich mit zitternder Spitze. Nach fünf, sechs Jahren fielen die ersten Wachposten und wurden von einer zweiten Generation ersetzt. Der Wachwechsel hatte etwas Demütigendes – schließ- lich war ihm klar, dass die ursprünglichen Soldaten nicht im Kampf gefallen waren. Für kürzere Zeit ver- wandelte sich die Höhle nun in eine weiche, schutz- lose Grotte, unsicher über ihre wahre Funktion. Dann schoss die neue Garde hoch. Noch waren die Reihen spärlich besetzt, aber an auffälliger Position erhoben sich vier Eckpfeiler mit Knospen. Ihre Gestalt erinnerte an die Pfahlreihen, die er im Sommer anzulegen pflegte: Am Seeufer sitzend, errichtete er Schlösser, die er mit Schanzen versah, indem er aus seiner geballten Faust nassen Sand tröpfeln ließ. Er musste nicht viel Fantasie ha- ben, um zu erkennen, dass die neuen Formationen gleichen stalagmitischen Ursprungs waren. Als er erfuhr, dass man sie „Canini“ nannte, erkannte er, was Kaninchen im Mund hatten – und warum sie alles rasend schnell in sich hinein mümmeln konn- ten. Seine eigenen Eckzähne waren so spitz, dass er mit ihnen ohne Weiteres Gegenstände tragen oder Feinde verletzen konnte. Bisweilen rissen sie die kalte Badewanne, ein Monster aus Dunkelheit und Luft unter dem Bett – und plötzlich sträubten sich die Haare an Armen und Beinen. Auf einmal schien die Haut von blutleeren Mückenstichen übersät. Er betrachtete sie jedoch als das, was sie waren: klei- ne, mit Vogelgezwitscher gefüllte Behälter); (4) Gottes Fingerspitzen (zwei Einbuchtungen auf den Wangen, symmetrisch ein paar Zentimeter unterhalb der Augen und im gleichen Abstand von der jeweiligen Seite des Nasenrückens liegend. Da sie nur in Verbindung mit Freude oder Traurigkeit, Mühsal oder Wut sichtbar wurden, fühlte er sich von ihnen verraten. Erneut hatte Gott die Finger- spitzen gegen seine Wangen gepresst – zur Ermah- nung); sowie (5) Die Wolke (ein schwereloses Etwas, das durch den Bauch aufstieg und dann in der Höhe des Zwerchfells schwebte, meist mit Erwartung verbun- den, manchmal jedoch auch mit der einzigen – unbe- greiflichen – Art von Freude, die ihm zu versichern vermochte: Es gab ihn nicht nur innerhalb seiner eigenen Hülle aus Haut). Übung macht den Meister Zu den Gefühlslagen, die er mit der Zeit so gut beherrschen lernte, dass es ihm gelegentlich glück- te, ihre natürlichen Folgen herbeizuführen, gehör- ten: falsches Lächeln, Krokodilstränen, gespieltes Erstaunen, ab und zu sogar ein kleidsames Erröten. Manchmal wurde er jedoch dermaßen überwältigt von dem, was er heraufbeschworen hatte, dass sei- ne Schöpfung die Kontrolle übernahm und er seine eigene Geisel wurde. Lektion In der Schule erfuhr er, dass ein Mensch aus zwei Quadratmetern Haut bestand. Danach sah er sich als Fläche. Dachte: Horizont. Dachte: bodenlos. Dachte auch: In jeder Geschichte kommt ein Punkt, hinter den er nicht blicken kann. Er hasste diesen Punkt. Er wusste, dass er notwendig war. Er dachte ihn sich als einen Nabel. O, singe vom Wütenden Wenn der Vater zornig wurde, presste er die Zun- genspitze gegen die Innenseite der unteren Schnei- dezähne. Sobald die Zunge einen Buckel gemacht hatte, senkte er die oberen Zähne, bis sie wie in einem Schraubstock saß. Für den Sohn war dies die Definition von Zorn. Eine ursprünglichere Kraft gab es nicht auf der Welt. Hinter der Wulst aus Fleisch sammelte sich der Dampf, staute sich die Wut. Nun reichte eine zusätzliche Irritation, um den Druck übergroß werden zu lassen. Wenn die Zähne die Zunge aus dem Griff verloren, verwandelte sich der Dampf in ein Brüllen, das tief unten aus dem Hals kam – irgendwo in der flözartigen Dunkelheit, von der die Zungenwurzel umgeben war und wo die fremde Muttersprache des Vaters daheim war. Mit einer Kraft, die einer Lokomotive in nichts nach- stand, stieg das Grollen durch die Kehle und ver- wandelte sich in einen Sturm, sobald es die Lippen erreichte. Als er von der ersten Dampflokomotive las, die in Schweden gebaut wurde, fand er einen Namen für den Zorn. Gefertigt 1853 rollte der siebzehn Tonnen schwere „Erstling“ auf vier miteinander ver- bundenen Rädern, die einen dumpfen, immer stär- ker brummenden Laut von sich gaben. Es fiel nicht schwer, die Wut des Vaters in dem Fahrzeug wie- derzuerkennen. Oder zu verstehen, warum er sich nicht zurückhalten konnte, wenn sich der Druck ein- mal aufgebaut hatte. Jetzt gab es nur ein denkbares Ende: Die Raserei musste einen zufriedenstellen- 60 SPRECHEN & SCHREIBEN Von der Front, ca. 1967 Von Aris Fioretos Innenseite der Mundhöhle auf, ein deutlicher Be- weis dafür, dass sie ihre Natur nicht verleugneten, nur weil er ausnahmsweise keinen Kampf mit seiner Umgebung ausfocht. Vor dem Badezimmerspiegel gähnend, konnte er sie drei Schritte von der Mitte jeder Kieferhälfte sehen, Heroen aus einer früheren Ära der Evolution, Göttern wie Tieren näher ste- hend als ihren Nachbarn. In einem Fall, oben links, fehlte der Beißer, der Eck- von Schneidezahn trenn- te, wodurch die Verteidigungslinie weniger kompakt wirkte als erwünscht, ja, die Zähne einen kindlichen Zug bekamen. Als Krieger wusste er jedoch, dass die Canini Wurzelfäden hatten, die in den Gaumen- himmel hinauf und in die Unterwelt des Kinns hin- ab liefen. Mit solchen Ahnen würden sie so schnell nicht nachgeben. Halb himmlisch, halb chthonisch wurden sie die Leibgarde der Zunge. Liste über unfreiwillige Orte An dieser Stelle folgt eine unvollständige Liste über Stellen am Körper, die sich der Kontrolle des Minderjährigen entzogen: (1) Der Telegraphenschlüssel (das linke Knie, das, gefangen in seelenloser Trance, unter der Schulbank zitterte. Seine mechanische Energie sandte die ewig gleichen Signale in ein irritiertes Universum); (2) Die Null (sowohl Faltenbildung als auch Land- hebung. Wenn er unsicher wurde, wuchs das Areal zwischen den Augenbrauen jedesmal zu und ver- wandelte sich in die Oberseite einer Walnuss. Eines Tages kam ihm zu Ohren, dass der ovale Punkt, den sich indische Frauen zwischen die Augenbrauen malten, kein Kastenzeichen, sondern eine kosmeti- sche Maßnahme war. Als der Lehrer erzählte, seine indische Bezeichnung können auch „Null“ bedeu- ten, wurde er in seinem Glauben bestärkt: Auch der Gegenstand für seine Verblüffung war nichtig); (3) Kleine, mit Vogelgezwitscher gefüllte Behälter (es waren nur wenige, jedoch stets unkontrollierba- re Gelegenheiten: eine grandiose Selbstaufopfe- rung in einem der Bücher, die er verschlang, eine zu