das leben und das sterben, das leid und die freude, die blasen an meinen wund- gelaufenen füßen und der jasmin hinterm haus, die verfolgung, die zahllosen grau- samkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes ganzes, und ich nehme alles als ein ganzes hin, und beginne immer mehr zu begreifen, nur für mich selbst, ohne es bis- lang jemand erklären zu können, wie alles zusammenhängt (s. 124). und ich dachte, oder eigentlich dachte ich es gar nicht, es war eher eine empfin- dung: in allen jahrhunderten hat es müde menschen gegeben, die sich in kälte und hitze auf gottes erde die füße wundgelau- fen haben, auch das gehört zum leben. in letzter zeit kommt es immer häufiger bei mir vor, dass ich in meinen kleinsten täg- lichen verrichtungen und empfindungen einen anflug von ewigkeit verspüre. ich bin nicht die einzige, die müde oder krank oder traurig oder ängstlich ist, sondern ich teile das los von millionen anderer men- schen aus vielen jahrhunderten. all das ist ein teil des lebens, und trotzdem ist das leben schön und sinnvoll noch in seiner sinnlosigkeit, wenn man nur allen dingen einen platz im leben einräumt und das ganze leben als einheit in sich aufnimmt, sodass es dennoch zu einem geschlosse- nen ganzen wird. und sobald man teile davon ausschließt und ablehnt, sobald man eigenmächtig und willkürlich dies eine vom leben annimmt, jenes andere aber nicht, ja, dann wird es in der tat sinnlos, weil es nun kein ganzes mehr ist und alles willkürlich wird (s. 128). viele leute werfen mir gleichgültigkeit und passivität vor und sagen, dass ich mich zu leicht ergebe. und sie sagen, jeder, der sich vor ihren klauen retten könne, müsse es versuchen, er sei dazu verpflichtet. ich solle etwas für mich selbst tun. aber das in letzter zeit kommt es immer häufiger bei mir vor, dass ich in meinen kleinsten täglichen verrichtungen und empfindun- gen einen anflug von ewigkeit verspüre. ist eine rechnung, die nicht aufgeht. zur- zeit ist nämlich jeder damit beschäftigt, etwas für sich zu tun, sich zu retten, und doch müssen viele, sehr viele sogar, gehen. und das komische ist: ich fühle mich gar nicht in ihren klauen, weder wenn ich blei- be, noch wenn ich abtransportiert werde. ich finde alles so klischeehaft und primitiv, ich kann diese argumente überhaupt nicht verstehen, ich fühle mich in niemandes klauen, ich fühle mich nur in gottes armen, um es mal pathetisch zu sagen, und ob ich nun hier an dem mir so lieben und vertrau- ten schreibtisch sitze oder ob ich nächsten monat in einer armseligen kammer im juden- viertel hause oder vielleicht in einem arbeits- lager unter ss-bewachung stehe, ich wer- de mich überall und immer, glaube ich, in gottes armen fühlen. man wird mich mög- licherweise körperlich zugrunde richten, aber mir weiter nichts anhaben können. vielleicht werde ich der verzweiflung anheimfallen und entbehrungen erdulden müssen, die ich mir in meinen düstersten phantasien nicht vorstellen kann. und doch ist das alles belanglos, gemessen an dem gefühl ich werde mich überall und immer, glaube ich, in gottes armen fühlen. e t u e h d n u n r e t s e g – e z t ä h c s 37 öcd 7.2022